„Ich finde, man muss sich engagieren, wenn man etwas für richtig oder für falsch hält“ (Ruth Henning)
Wir trauern um Ruth U. Henning, eines der Gründungsmitglieder der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg und deren langjährige Geschäftsführerin (von 1992-2008), die am 17. Dezember 2022 nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von achtzig Jahren verstorben ist. Ruth Henning hat die Arbeit der Gesellschaft in den Jahren seit 1991 ganz entscheidend mitgeprägt. Nachdem sie 1991 von einem anderthalbjährigen Aufenthalt in Warschau nach Deutschland zurückgekehrt war, machte sie sich mit großem Engagement daran, Einfluss auf die Entwicklung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu nehmen und die Menschen an der Grenze in Diskussionen zu verwickeln, die nicht entlang der Linie von eingefahrenen nationalen oder regionalen Zugehörigkeiten von Ost und West verliefen. Kontrovers, dennoch freundschaftlich, und immer gleichberechtigt – das war ihre Devise, von der sie sich in der Organisation von Konferenzen, Workshops, einer Deutsch-Polnischen Gesprächsreihe und Studienreisen leiten ließ. Diese Veranstaltungen vereinten deutsche und polnische Kommunalpolitiker:innen, brachten Menschen (und Vertriebene) dies- und jenseits der Grenze über ihre Geschichte(n) miteinander ins Gespräch oder reflektierten das Bild der Nachbarn in der Presse des Grenzgebietes. Die schmerzhafte Aufarbeitung von Vergangenheit in Deutschland und in Polen, Verbrechensbekämpfung an der Grenze, die Entwicklung der Landwirtschaft, das Leben von Sinti und Roma, die Situation von Frauen, die Lage der Kindergärten, die Umwelt und die ökologische Situation der Oder – Ruth versuchte, die Themen, die den Menschen vor Ort auf beiden Seiten der Grenze unter den Nägeln brannten, und die kontrovers und kompliziert waren, in zahlreichen Workshops und Veranstaltungen gemeinsam mit Förderern sowie Partnerorganisationen in Brandenburg und in Polen zu thematisieren und ein weitverzweigtes Netzwerk von Engagierten aufzubauen. Dabei half ihr ihr eigenes Netzwerk in Ostmitteleuropa, das sie bereits vor 1989 erschaffen hatte, unter anderem durch die Unterstützung der Gewerkschaft Solidarność – für diese Unterstützung erhielt sie, wie auch ihr Mann Christian Semler, im Jahr 2010 die Dankbarkeitsmedaille/ Medal Wdzięczności des Europäischen Zentrum Solidarność in Danzig.
Es war Ruth immer das Wichtigste, konkrete Menschen zu finden, die an der Grenze lebten, die selbst motiviert und engagiert waren und sich die Mühe machten, die Sprache der Nachbarn zu lernen. Denn über eines machte sie sich keine Illusionen: Die Grenze war eine harte Sprachengrenze und für eine gleichberechtigte Diskussion war es notwendig, diese Barriere Schritt für Schritt abzubauen und durch Dolmetschen zu verringern, auch mental, denn, wie sie es selbst einmal sagte: „Wenn die Leute merken, dass die Sprache so schwer zu lernen ist, dann werden sie sicher auch ein bisschen Achtung vor der Kultur und den Menschen haben, die die Sprache sprechen.“ Daher förderte die DPG Brandenburg stets das Erlernen der Nachbarsprache, besonders das Polnische durch Deutsche. Aber nicht nur das Erlernen von Sprache war Ruth Henning wichtig, sondern auch die Wissensvermittlung über den jeweiligen Nachbarn, weswegen sie immer wieder Wissenschaftler:innen aus beiden Ländern zu den Veranstaltungen der DPG einlud. „Ohne Kenntnis, kein Verständnis“, war eines der prägenden Leitmotive von Ruth für die Arbeit der DPG Brandenburg. Zu diesem Zweck hatte die DPG unter ihrer Federführung 1993 begonnen, das Informationsbulletin TRANSODRA herauszugeben, das 1996 durch den Deutsch-Polnischen Pressedienstes „Transodra – Spezial – Kreuz und quer über die Grenze“ ergänzt wurde. TRANSODRA transportierte nicht nur die wichtigsten Nachrichten aus Polen nach Deutschland, sondern dokumentierte auch zahlreiche wichtige und kontrovers geführte Debatten in Polen und machte deutsche Leserinnen und Lesern damit vielfach erstmalig vertraut. Es war auch eines der ersten Journale, das die so aufwühlende Debatte in den polnischen Medien um die Ereignisse in Jedwabne im Sommer 1941 dokumentierte, als nichtjüdische Polen im ostpolnischen Jedwabne ihre jüdischen Nachbarn ermordet hatten. Die polnische Mediendebatte, die der Publikation „Nachbarn“ von Jan Tomasz Gross folgte, dokumentierte sie kenntnisreich und verzichtete dabei auf jegliche Anklage – Ruth Henning ging es nicht um polnischen oder deutschen Antisemitismus, sondern um Rassenhass als normatives Problem, das überall gleichermaßen aufzuarbeiten und zu bekämpfen ist. Mit dem Erscheinen dieser Nummer 23 der Zeitschrift im Jahr 2001/2002 musste TRANSODRA eingestellt werden, Ausgabe 24 erschien schon nur noch digital – fortan und bis heute sind die Ausgaben der Zeitschrift im Internet zugänglich und ein wertvoller Fundus für Informationen über das Grenzgebiet in jenen Jahren, denn auch Nachhaltigkeit gehörte zur Ruths Zielen.
Das Ziel, dass sich Deutsche mehr Wissen über das Nachbarland Polen aneignen, verfolgte Ruth Henning mit polnischen Partner:innen auch mit der Gründung des Deutsch-Polnischen Journalistenclubs „Unter Stereotypen/ Pod Stereo-Typami“. Ihm schlossen sich 1994 in Guben/ Gubin 50 über deutsche und polnische Journalist:innen aus dem Grenzgebiet und darüber hinaus an. Der Club richtete fortan zahlreiche Konferenzen zu aktuellen und kontroversen Themen wie den Eigentumsverhältnissen der Printmedien in beiden Ländern oder dem Umgang mit Rechtsradikalismus in Deutschland und Polen aus – im Jahr 1997 wurde diese Arbeit mit dem Deutsch-Polnischen Preis ausgezeichnet, der damit die Verdienste des Clubs um die Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen würdigte. Das damit verbundene Preisgeld konnte wiederum für die Arbeit vor Ort eingesetzt werden – denn das war Ruth Henning das Wichtigste, dafür kämpfte sie einen nicht immer einfachen Kampf um Fördergelder etwa seitens der brandenburgischen Landesregierung. Im Jahr 2004 brachte sie in diesem Sinne das regionale, grenzüberschreitende Projekt „Spurensuche – alte, neue, fremde Heimat“ auf den Weg, ein Netzwerk deutsch-polnischer Initiativen aus der Grenzregion, die sich mit Vertreibungsschicksalen und dem hinterlassenen Kulturerbe beiderseits der Grenze beschäftigen. Auch in diesem Projekt ging es ihr darum, Menschen zueinander zu bringen, unbequeme Wahrheiten zu diskutieren, Geschichte zu enttabuisieren – kurzum, sich nach Möglichkeit die Wahrheit zu sagen, nachzufragen und zuzuhören, um Vertrauen zu schaffen und kein Misstrauen entstehen zu lassen. Das Schönste bei all dieser Arbeit war, wie sie einmal selbst gesagt hat, dass sich immer mehr junge Menschen aus eigenem Antrieb mit der Grenzregion und dem Nachbar Polen beschäftigten. Das war ihr Anliegen, junge und ältere Menschen beiderseits der Grenze zueinander zu bringen, Vorurteile und gegenseitige Ängste abzubauen und damit zu einem Miteinander an der Grenze beizutragen, Partizipation und Demokratie zu fördern, von unten und gleichberechtigt – ein Ziel, das nicht nur in den Grenzregionen von nachhaltiger Aktualität ist. Wir werden Ruth und ihre Interventionen zu Fragen der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in einem europäischen Kontext sehr vermissen. Sie waren immer engagiert, politisch, manchmal unbequem und dienten stets dem Anliegen, das freundschaftliche und konstruktive Miteinander an der Grenze zu fördern. Nicht zuletzt verlieren wir eine sehr gute Freundin, die beiderseits der Grenze, in West und Ost, gleichermaßen anerkannt und geschätzt war.
Katrin Steffen